Marie Juchacz
gründete vor 100 Jahren die Arbeiterwohlfahrt
Was war passiert? Nach einer schlechten Vorbereitung auf den Krieg – man dachte voller Selbstüberschätzung, man werde innerhalb weniger Monate ohnehin siegen – führte ein Mangel an Saatgut und Arbeitskräften in der Landwirtschaft 1916 zu einer Missernte und damit zu einem Hungerwinter. Früh Kohlrübensuppe, mittags Koteletts von Kohlrüben, abends Kuchen von Kohlrüben, Kohlrübenkaffee, mehr gab es für viele Familien nicht zu essen. „Wir nagen am Hungertuche“, heißt es in einem Tagebuch. „Mit 90 Gramm Fett, mit 150 Gramm Fleisch, mit 2000 Gramm Brot und einem Ei die Woche auskommen, das ist wahrhaftig kein Spaß.“
Der Hunger der rechtlosen Bevölkerung und der aussichtslose Krieg führten zum Sturz des Kaiserreiches. Der MSPD-Abgeordnete Philipp Scheidemann rief 1918 die Republik aus, Friedrich Ebert wurde zum Reichskanzler berufen. Ein Waffenstillstand wurde verhandelt und am 11. November 1918 der Krieg offiziell beendet. Man setzte die Wahlen zur Nationalversammlung für den 19. Januar 1919 fest, und zwar erstmalig für alle Menschen ab 20 Jahre, Männer und Frauen.
Berlin war in gewisser Weise ein Glücksfall: Marie und Elisabeth besuchten verbotene Frauenversammlungen, die als Leseabende getarnt waren. Die beiden Schwestern wuchsen in politische Aufgaben hinein und waren mit Vorträgen unterwegs. Sie engagierten sich in der SPD insbesondere fürs Frauenwahlrecht und für die Bildung der armen Bevölkerung. Soziale Arbeit Im Jahr 1913 wurde Marie Juchacz von der SPD-Führung unter Friedrich Ebert als Sekretärin für Frauenfragen nach Köln berufen. Elisabeth folgte, mittlerweile war auch sie verheiratet und hatte Kinder. Hier verbanden sie erstmals die Frauenfrage mit der sozialen Betätigung: Sie entwickelten das Modell einer Heimarbeitszentrale, in der Frauen aus gebrauchter Kleidung Wäsche für Soldaten nähten. Die Frauen bekamen einen höheren Lohn als üblich, sodass auch die Fabriken den Lohn anheben mussten, um keine Arbeiterinnen zu verlieren. Hausbesuche bei bedürftigen Familien brachten Marie Juchacz zur Überzeugung, dass es höchste Zeit für die Gründung einer organisierten Arbeiterwohlfahrt war. Frauenwahlrecht und Mandat 1917, nach dem kalten, harten Kohlrübenwinter, der auch in der Großfamilie Juchacz zu Mangelerscheinungen führte, wurde Marie als SPD-Frauensekretärin nach Berlin berufen. Nach dem Kriegsende bewarben sich Marie Juchacz und ihre Schwester Elisabeth Kirschmann-Röhl um ein Mandat in der Nationalversammlung in Weimar. Mit 35 weiteren Frauen erhielten die beiden je einen Sitz; die 19 SPD-Frauen bildeten dabei die größte Gruppe von Parlamentarierinnen. Am 19. Februar sprach Marie Juchacz als erste Frau zu einem deutschen Parlament: „Meine Herren und Damen! … Ich möchte hier feststellen ..., dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“
Marie Juchacz bedrängte ihre eigene Partei, angesichts des Elends der Nachkriegszeit eine eigene Wohlfahrtsorganisation der Arbeiterschaft zu gründen. Nach vielen Schwierigkeiten setzte sie am 13. Dezember 1919 auf Wunsch von Friedrich Ebert den „Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt“ in der SPD durch. In den Richtlinien heißt es: „Der Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt bezweckt die Mitwirkung der Arbeiterschaft bei der Wohlfahrtspflege, um hierbei die soziale Auffassung der Arbeiterschaft durchzusetzen. Im Besonderen will er die gesetzliche Regelung der Wohlfahrtspflege und ihre sachgemäße Ausführung fördern.“
Die 11 Mitglieder des Vorstands und die 30 Mitglieder des Beirates – darunter 18 Frauen! – setzten sich aus SPD-Mitgliedern, Parlamentariern und Fachleuten verschiedener Disziplinen zusammen. Von Anfang an ging es um eine andere Art der Wohlfahrtspflege: Verhütung der Armut durch Beseitigung ihrer Ursachen, Abschaffung der bisherigen armenrechtlichen und polizeilichen Maßnahmen, keine Frage nach Schuld, sondern nach Heilbarkeit. Statt Abschreckung und Erniedrigung Vorbeugung und Hebung der Menschenwürde. Arbeits-befähigung aller Menschen, die dazu in der Lage sind. Versorgung der Menschen, die durch Jugend, Krankheit oder Versehrtheit nicht arbeitsfähig sind. Soziale Rechtsansprüche. Absolute Neutralität gegenüber dem hilfsbedürftigen Menschen; keine Klassifizierung nach Zugehörigkeit zu einer Konfession, Religion oder Partei. Marie Juchacz und ihre Mitstreiterinnen sahen ganz klar, dass die Sozialpolitik die Zukunft der Demokratie bestimmen würde – eine Einsicht, die heute so aktuell ist wie selten.
Marie Juchacz
der Mensch
Marie Juchacz
Die Flucht. 1933 - 1948
Mit großem Einsatz sorgte Marie Juchacz für den Aufbau von Schulungseinrichtungen, Beratungsstellen, Kindergärten, Erholungsheimen. Aus dem kleinen Ausschuss entwickelte sich rasch ein tragfähiger Verband: So hatte die AWO im Jahr 1933 rund 135.000 ehrenamtliche Mitglieder, die in 2.600 Ortsausschüssen und knapp 1.500 Beratungsstellen tätig waren. (Zum Vergleich: Heute sind es etwa 330.000 Mitglieder, 212.000 Mitarbeitende, 3.514 Ortsvereine und mehr als 13.000 Dienste & Einrichtungen.)
Bis 1933 blieb Marie Juchacz Vorsitzende der AWO. Gleichzeitig gehörte sie von 1920 bis 1933 als SPD-Abgeordnete dem Reichstag an. Als aktives Mitglied des Verfassungsausschusses setzte sie sich für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen ein und widmete sich der Sozialpolitik. Am Vorabend der Reichspräsidentenwahl 1932 war Marie die einzige Frau, die sich im Reichstag mutig und klar in die tumultartige Debatte einmischte: „Die Frauen ... wollen keinen Bürgerkrieg, wollen keinen Völkerkrieg… Die Frauen ... durchschauen die Hohlheit einer Politik, die sich als besonders männlich gibt, obwohl sie nur von Kurzsichtigkeit, Eitelkeit und Renommiersucht diktiert ist. Dieser Politik, der nationalsozialistischen
Politik, mit allen Kräften entgegenzutreten, zwingt uns unsere Liebe zu unserem Volke…”
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 war es vorbei mit der Demokratie. Alle gewählten Frauen mussten ihre Mandate in Reichstag und Landtagen aufgeben – auch Marie Juchacz’ politische Karriere endete somit 1933 abrupt. Während der gesamten NS-Zeit konnte keine Frau in ein deutsches Parlament gewählt werden. Mit der Verordnung des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 waren die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt. Das Recht zur freien Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, das Vereins- und Versammlungsrecht waren passé. Eine Welle von Verhaftungen unliebsamer Personen setzte ein.
Besonders auf die Arbeiterwohlfahrt als Gliederung der SPD hatte man es abgesehen, weil sie als einzige Wohlfahrtsorganisation nicht bereit war, sich der NS-Bewegung anzuschließen. Die Folge: Die Arbeiterwohlfahrt wurde direkt nach der Verordnung des Reichspräsidenten zerschlagen. Im Mai 1933 wurden alle ihre Bücher, Akten und Aufzeichnungen „in Verwahrung“ genommen, Funktionäre wurden verhaftet, Einrichtungen und das Vermögen enteignet und in die NS-Volkswohlfahrt überführt.
Für Marie Juchacz und ihre Mitstreiter begann eine schwere Zeit: 1930 war Maries Schwester Elisabeth Kirschmann-Roehl, ihre Gefährtin und ständige Gesprächspartnerin, plötzlich verstorben. 1933 erhielt Marie von einem Parteigenossen einen Hinweis, dass ihre Verhaftung unmittelbar bevorstand. Deshalb floh sie wie viele politisch Verfolgte ins Saargebiet, das seit 1920 unter französischer Verwaltung stand. Dort richtete sie einen Mittagstisch für Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich ein. Eine Volksabstimmung im Januar 1935 ergab mehr als 90 % Zustimmung der Bevölkerung im Saargebiet für eine Vereinigung mit Deutschland. Marie Juchacz und ihr Schwager Emil Kirschmann flohen weiter ins Elsass, wo sie im Widerstand und später bei der „Pariser Arbeiterwohlfahrt“ mitarbeiteten. Bei Ausbruch des 2. Weltkrieges setzten sie ihre Flucht fort und fanden Zuflucht in einem südfranzösischen Dorf in der Nähe von Pau. Ende 1940 erreichten sie Marseille, bekamen eine Reisegenehmigung und konnten eine Schiffspassage buchen.
Fünf Jahre lang mussten Marie Juchacz und andere Sozialdemokratinnen, die sich in die USA gerettet hatten, hier ausharren und Nachrichten von Gräueltaten in Deutschland hören. Mit einem kleinen Freundeskreis setzte Marie kurz vor Ende des Krieges eine Hilfsaktion in Gang. Zuerst wurden Hilfssendungen an Genossen und Genossinnen in den befreiten Gebieten Frankreichs, Belgiens und der Niederlande, später auch nach Deutschland verschickt. Als „German-speaking branch“ des „Workmen`s Circle“ beziehungsweise „Arbeiterwohlfahrt New York“ organisierten sie Konzerte und Vorträge prominenter Menschen und erarbeiteten so die Mittel für mehr Hilfspakete, die zunächst nur von reisenden Militärangehörigen nach Deutschland mitgenommen werden konnten. Nach Kriegsende waren durch die Care-Pakete-Aktion endlich Sendungen in größerem Umfang möglich. Marie Juchacz sagte 1949 rückblickend in einem Interview mit der Westfälischen Rundschau: „Auf dem Höhepunkt der privaten Hilfe von Mensch zu Mensch zählte die Post mehr als eine Million von Paketen im Monat, das waren an Porto damals ungefähr 2,8 Millionen Dollar. Das mag ihnen zeigen, was in diesem Lande der großen Hilfsbereitschaft trotz aller Schwierigkeiten von einer kleinen Zahl von Menschen getan wurde, ganz im Sinne brüderlicher und sozialistischer Solidarität.“